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Ausstellung im Tieranatomischen Theater verlängert bis 23. März 2024.


Wenn Musik & Kunst nervös werden. Mit dem Sonapticon wird Musik sprichwörtlich nervös: Ein ganzer Raum verwandelt sich in ein Netzwerk von interagierenden Tönen, die grundlegende Vorgänge in Nervenzellen widerspiegeln, die uns zu fühlenden und denkenden Wesen machen. Der begehbare, immersive Klangraum aus miteinander kommunizierenden Lautsprechern macht es nicht nur möglich, in die Netzwerkstruktur einzutauchen, sondern zugleich kann man mit dieser über Töne und Geräusche interagieren. Wenn man ein Gefühl für die Abläufe bekommen hat, dann lässt sich mit dem Sonapticon auf völlige neue Art und Weise musizieren – eine Musik, die eine Idee der kognitiven Prozesse gibt, die in ihrer Komplexität für uns nach wie vor ein Geheimnis bleiben.

Sonaptische Mobilmachung: Theatre of Memory Das Sonapticon wurde zum ersten Mal 2012 als Großinstallation mit 43 Lautsprechern im Kontext einer Residency im Klangdom des ZKM Karlsruhe realisiert. Die neuestes Version macht das System mobil und immersiver indem die sonderangefertigten Audioneuronen-Skulpturen flexibel über den ganzen Raum verteilt werden können. flexible and even more immersive creating custom made audio-neuron sculptures distributed over the whole space. Dabei greift Tim Otto Roth & sein Studioteam auf eigene Lautsprecherskulpturen zurück, die bereits für die Klanginstallation [aiskju:b] eingesetzt wurden, die in 360 Grad Töne emittieren. Die auf einem Mikroprozessor basierende Elektronik dieses bewährten Systems wird entsprechend durch Mikrophone erweitert. Das Peri-Sonapticon setzt sich somit wie ein Nervennetzwerk aus einzelnen autonomen Einheiten zusammen und reagiert so viel unmittelbarer auf den analogen Raum – ein wesentlicher Unterschied zur Studioversion. Zudem wird nun über die wechselnde farbige Illumination der Reizstatus eines Audioneurons angezeigt: Es wird somit deutlich, wie ein Audioneuron andere 'hört', bevor es selbst so weit gereizt wurde, damit es selbst einen Ton spielt.

Premiere @ TAT Berlin Das Theatre of Memory feiert Premiere mit einer Präsentation von 70 Audioneuronen im Tieranatomischen Theater im Herzen Berlins vom 12. Januar bis 23. März 2024.


MPI-EA Frankfurt Das Theatre of Memory wird kofinanziert durch eine ReSilence Residency des STARTS Programms der Europäischen Kommission. Teil dieser Residency war eine Präsentation am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPI-EA) in Frankfurt vom 15.-28. February 2024. Weitere Informationen zur Ausstellung auf der Seite des MPI-EA

Peri-Sonapticon Ein erstes Pilotprojekt mit 40 Audioneuronen wurde 2021 von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von Neustart Kultur aus Projektmitteln des Bundesverbands Bildender Künstlerinnen und Künstler gefördert.






Das Klangnetzwerk der Audioneuronen

Die meisten Menschen kennen akustisches Feedback lediglich als einen kaskadeartig sich verstärkenden Effekt einer Kombination von Mikrophon und Lautsprecher, wie ihn Jimmy Hendrix mit seiner Gitarre künstlerisch untersuchte. Das Sonapticon arbeitet mit einer anderen Form der Rückkoppelung, die der Kommunikation von Nervenzellen entlehnt ist.
Den Kern des Sonapticons bilden ‚Audioneuronen': Kleine leuchtende kugelförmige Klangskulpturen, die mit Lautsprechern und Mikrophonen versehen sind. Im Unterschied zu Nervenzellen sind diese nicht durch elektrisch leitende Fasern sondern mittels im Raum sich bewegender Töne verbunden. Ein Audioneuron registriert ausgewählte Tonimpulse (spikes) in seiner Umgebung mittels eines Mikrophons und wird durch diese gereizt. Wird eine Reizschwelle überschritten, "feuert" das Audioneuron einen eigenenImpuls über einen Lautsprecher. Der springende Punkt des Systems ist dabei, dass jedes Neuron einen charakteristischen Sinuston mit einer individuellen Frequenz zugeordnet bekommt. Damit wird gleichsam die synaptische Signalübertragung biologischer Neuronen in Klang (lateinisch: sonus) übertagen – es entsteht das "Sonapticon". Je nachdem wie die Frequenzen zugeordnet und wie die Audioneuronen im Raum positioniert werden, lassen sich unterschiedliche dynamische Klangnetzwerke im Raum aufbauen. Komplementär zum akustischen Geschehen können über LEDs im Inneren der durchscheinenden Skulpturen weitere Charakteristika wie z.B. der Reizstatus farblich dargestellt werden.

In seinem englischsprachigen Konferenzbeitrag Sonapticon - space as an acoustic network erläutert Tim Otto Roth die technischen Hintergründe und gibt Einblicke in die Konzeption der Komposition für den Klangdom am ZKM Karlsruhe.

Zur Funktionsweise biologischer Neuronen

Nervenzellen sind miteinander durch organische leitende Fasern verbunden, über die sie mit kurzen elektrischen Impulsen, so genannten Spikes kommunizieren.  Links sehen Sie ein einfaches Schema, wie ein Neuron funktioniert: Die eintreffenden elektrischen Impulse werden summiert und verändern entsprechend das Membranpotential des Neurons, das durch den gelben Kreis dargestellt wird. Es gibt zwei verschiedene Arten von eintreffenden Spikes: Wenn der Spike das Membranpotetial ansteigen läßt, so wird das sendende Neuron exitorisch (anregend) genannt, wenn er aber dieses absenkt, so wird der Sender als inhibitorisch (hemmend) eingestuft.
Treffen keine externen Impulse ein, so geht das Membranpotential auf ein Ruhepotential zurück (grüner Ring). Ein Neuron sendet selbst einen Spike aus – es 'feuert' – wenn die eingehenden Impulse der anderen Neuronen das Potential über einen bestimmten Grenzwert steigen lassen (roter Ring). Nachdem ein Neuron gefeuert hat, kann es über eine bestimmte Zeit nicht mehr angeregt werden und das Membranpotential geht auf das Ruhepotential zurück.

self synchronizing firing neuronsDieses einfache Interaktionschema bildet die Basis jeglicher Nervenaktivität. Es bleibt bis heute ein Rätsel, wie diese elektrischen Rückkoppelungen so etwas formen wie einen einfachen Gedanken in unserem Gehirn. Mit den neuesten Mikroskopiermethoden lassen sich in kleinen Gewebeschnitten beobachten, wie sich die Spikes feuernder Nervenzellen selbst organisieren (siehe die Animation in der Videodokumentation). Ein Teil der Neuronen beginnt hierbei nach einer gewissen Zeit synchron zu feuern. Man vermutet, daß in diesen sich selbstorganisierenden Mustern das Geheimnis des Gedächtnisses liegt.
Die neuroakustische Musik kann die Art und Weise der Entstehung und die Robustheit der Selbstsynchronisation gezielt untersuchen, indem einzelne Parameter variiert werden oder das System durch die Interaktion von menschlichen Akteuren gar bewußt gestört wird. Durch die räumlich-akustische Präsentation schafft das Sonapticon auch für den Fachwissenschaftler einen völlig neuen Zugang zu neuronalen Prozessen.

Zwei grundlegenden sonaptische Komponenten

Folglich stellt das Sonapticon ein System von verlangsamten synthetischen Neuronen dar, welches in Echtzeit eine Interaktion mit neuronalen Dynamiken unter gleichzeitiger Kontrolle der biologischen Parameter erlaubt. Das Sonapticon verbindet zwei grundlegende Komponenten:
- digitale in silico Methoden mit aktuellsten mathematischen biologischen Neuronenmodellen (z. B. das leitfähigkeitsbasierte Modell von Alain Destexhe) und
- eine empirische Umgebung (der Klangdom), in der die Akustik als analoger Raum des Experimentierens und Interagierens dient.

Klanganalyse

Wenn man sich ein Klangspektrum ansieht, dann kann man beobachten, dass die meisten Klänge aus einem breiten Spektrum an Frequenzen zusammensetzen. Sinustöne hingegen schwingen auf einer einzigen Frequenz und zeigen deshalb bei entsprechender Stärke eine charakteristische Spitze im Spektrum. Auf diese Weise können ganz einfach die Audioneuronen miteinander verbunden werden: Jedes Audioneuron registriert ein spezifisches Set an Frequenzen, die anderen Neuronen zugeordnet sind. Diese Frequenzen sind im Spektrum als gelbe oder blaue Linien markiert. Wenn ein Audioneuron eine signifikant ansteigende Spitze mit deren Maximum an einer der Linien registriert, dann interpretiert es diese als einen Impuls eines verbundenen Neurons und die Linie blinkt in rot. Die Filmdokumentation zeigt ferner anhand des Wechsels des Audioneuronenpotentials, dass Spitzen bei den blauen Linien als exitorisch und Spitzen bei den gelben Linien als inhibitorisch interpretiert werden. Im unteren Teil des Audioneuronendisplays ist ein Plot zu sehen, der das wechselnde Potential aufzeichnet und so hilft, die Dynamik eines einzelnen Neurons besser zu verstehen.

Die PC-Version

Prinzipiell kann jede Rechnerarchitketur mit einem Mikrophon und einem Lautsprecher als ein Audioneuron fungieren, sei es ein Laoptop, ein Tablett-PC oder ein Smartphone. Im August 2012 fand mit Laptops eine erste Performance am Bernstein Centre for Computational Neuroscience auf dem Campus der Berliner Charite statt. Die Besucher installierten eine kleine Software und verwandelten so ihren mit kleinen externen Lautsprechern versehene Laptop – sowohl PC also auch Mac – in akustische Neuronen. Schritt für Schritt entstand so ein Netzwerk mit zwanzig akustischen Neuronen, deren Dynamik durch das sukzessive Hinzufügen von Neuronen erforscht werden konnte.
Bereits hier lud das Sonapticon zur Interaktion ein. Eine singende Säge, die ein recht klares Spektrum mit Sinustönen generiert, erwies sich als ein perfektes Instrument, die Resonanzen des Laptopsystems zu erforschen.

Proof of Concept im Klangdom des ZKM Karlsruhe Das Funktionieren des Sonapticons hat Tim Otto Roth in Zusammenarbeit mit dem Neuromathematiker Dr. Benjamin Staude als Gastkünstler des ZKM Karlsruhe gezeigt. 2012 erfolgte die erfolgreiche Premiere im dortigen Klangdom mit 43 Studiolautsprechern unter Einbeziehung von drei Piccoloflötisten im Rahmen des IMATRONIC Festival und des Symposiums Neuroaesthetics.

Impressionen des Konzerts am ZKM Karlsruhe mit den drei Piccoloflötisten Anna Buck, Ay-Ling Yang und Eric T.

Technische Umsetzung für den Klangdom am ZKM Karlsruhe

Im Klangdom des ZKM erfolgt die Klanganalyse über ein Framework basierend auf MaxMsp, das von Holger Stenschke programmiert wurde. Die Adaption des Neuronenmodells sowie die Kompositionsumgebung hat Benjamin Staude in Python realisiert. Die Visualisierung wurde von Tim Otto Roth mit Gem in Kombination mit Puredata erstellt.

Vorgeschichte

Music of Life - Hellerau 2008 Bereits seit 2007 experimentiert Tim Otto Roth mit der akustischen Übersetzung von Selbstorganisationsprinzipien. In Zusammenarbeit mit der Gruppe Π'XL arbeitete er 2008 mit einem eigens geschaffenen Projektchor an der Umsetzung von sogenannten zellulären Automaten auf die Sänger des Chores. 2011 übertrug er das Konzept dieser Music of Life auf Streicher im Rahmen eines Konzerts am ZKM Karlsruhe. Die Idee zum Sonapticon entstand aus einem Gespräch heraus mit dem damals am Max-Planck-Institut für moklekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) forschenden Neurobiologen Eugenio Fava nach dem ersten Chorkonzert im Deutschen Hygienemuseum in Dresden. Auf Einladung von Ludger Brümmer, dem Leiter des Instituts für Musik und Akustik, bekam Tim Otto Roth schließlich die Gelegenheit gemeinsam mit dem Biomathematiker Benjamin Staude und dem Tontechniker Holger Stenschke im Klangdom des ZKM, die Idee in die akustische Realität umzusetzen. Von 2012 bis 2012 arbeitete das Team an der Umsetzung der Idee. In einem Blog ist die Entwicklung des Sonapticons dokumentiert.
Bislang war eine Aufführung an ein Großstudio wie den Klangdom gekoppelt, da die ganze Aktivität noch aufwendig von einem Zentralrechner gesteuert wurde. Das Peri-Sonapticon macht das ganze System mobil und flexibel, indem jede Audioneuronskulptur selbst die klangliche Prozessierung auf einem Mikroprozessor ausführt.


Tim Otto Roth

Der Konzeptkünstler und Komponist Tim Otto Roth verbindet in seinem Werk Kunst und Naturwissenschaft auf neuartige Weise. Mit seinen raumgreifenden Klangskulpturen wie dem aus 36 rotierenden Lautsprechern bestehenden Heaven's Carousel oder der Wasserorgel aura calculata gelingt es ihm, in der Auseinandersetzung mit aktueller wissenschaftlicher Forschung neue ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen und damit neue Wege in der Kunst eröffnen. In seiner kompositorischen Arbeit fokussiert er den Raum als (additiven) Synthesizer, in dem sich Töne von im Raum verteilten Tonquellen zu ortspezifischen Klänge mischen. Neben seiner besonderen Methode zur Spatialisierung von Klang fokussiert er in seinem Schaffen mikrotonale Skalen, deren "Harmonik" sich aus spezifischen physikalischen Prozessen ableiten lassen. Im Juni 2018 feierte seine Klanginstallation SMART>SOS Premiere am IRCAM in Paris. Seit Sommer 2018 zeigt er die immersive Klangskulptur [aiskju:b], die aus 444 illuminierten Lautsprechern besteht und mit Daten aus dem IceCube-Observatorium bespielt wird, in der Kulturkirche St. Elisabeth in Berlin-Mitte, in der Reaktorhalle München und am Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen. Vom 5. Dezember 2023 bis 25. Februar 2024 ist [aiskju:b] mit 216 Einheiten im Musée des Arts et Métiers in Paris zu erleben.
www.imachination.net

Transdisziplinäres Symposium zur Neuronästhetik

Einen begleitenden transdisziplinären Brückenschlag zum Theatre of Memory unternahm das Symposium am 26./27. Januar 2024 an der Humboldt-Universität zu Berlin, das Forscher:innen sowie Akteur:innen aus den Natur- und Kulturwissenschaften, aber auch aus der Musik zusammenbrachte, um im Dialog die neuronalen Bretter, die im sprichwörtlichen Sinne für uns die Welt bedeuten, zu erkunden. Im Mittelpunkt stand hierbei die Idee einer Neuronästhetik, die anders als die Neuroästhetik nicht primär hirnübergreifende Interaktionsmuster thematisiert, sondern einen Paradigmenwechsel formuliert, der mit dem mikroskopischen Fokus auf die Single-Neuron-Forschung einhergeht.

Rückblick mit Exzerpten aus den 6 Paneldiskussionen. Ausführlicher auf die Beiträge und Panels geht der Symposiumsbericht unten ein.

Ein Schwerpunkt des Symposiums war das Gedächtnis, der ‚Godot' unseres neuronalen Theaters. Die immer wieder verwendeten Musikvergleiche in den Neurowissenschaften weisen auf die Bedeutung des räumlichen und zeitlichen Zusammenspiels von Neuronen hin: "Ähnlich wie eine Gruppe von Musikern in einem Orchester, die koordiniert werden müssen, um eine harmonische Sinfonie zu schaffen, muss die Aktivität neuronaler Ensembles genau synchronisiert sein, um ein intaktes Gedächtnis zu bilden." (Kol & Goshen 2021). Die Neuronen-Doktrin, die Neurone als Akteure des Gedächtnistheaters begreift, wird nicht nur von physiologischer Seite befragt werden, sondern auch wissenschaftshistorisch kontextualisiert und von philosophischer Seite reflektiert: Es wird gefragt, ob die für uns erfahrbare Weltenbühne und die zugrundeliegenden kognitiven Prozesse auf neurobiologische Prozesse reduziert werden können. Darüber hinaus wird die Interaktion von Musik mit neuronalen Netzwerken und die Konzeption von Musik als raumzeitliches Klangnetzwerk zur Sprache kommen. Die Tagung reagiert somit auch auf die aktuelle Diskussion um künstliche Intelligenz, indem sie die faszinierende symphonische Komplexität der lebenden Intelligenz herausarbeitet.

Konzeption: Prof. Dr. Christoph Ploner, Tim Otto Roth und Miriam Seidler in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Petra Ritter, Prof. Dr. Thomas Schnalke und Felix Sattler.


Freitag, 26. Januar 2024
13:30
Matthew Larkum, Berlin: Einführung

14:00
Panel 1
Livia de Hoz, Berlin: Making sense of sound up (and down) the auditory circuit hierarchy
Bernhard Seeber, München: From acoustic rooms to neurons and back
Moderation: Katja Naie


15:30
Panel 2
John-Dylan Haynes, Berlin: Wissenschaft, Kunst, Freiheit
Cornelius Borck, Lübeck: "What you see is what you get"
Moderation: Felix Sattler

KAFFEEPAUSE

17:30
Panel 3
Marina Mikhaylova, Berlin: Calcium Symphony: Conducting Neuronal Trafficking for Synaptic Plasticity
Beatrice de Gelder, Maastricht: NN
Moderation: Christoph Ploner

PAUSE mit Gelegenheit zu einem Ausstellungsbesuch im Tieranatomischen Theater

20:00
Abendpanel
Symphonische Komplexität. Tim Otto Roth im Gespräch mit Matthew Larkum und Jan St. Werner

Samstag, 27. Januar 2024
9:30 h
Panel 4
Petra Ritter: Was können digitale Gehirn-Zwillinge?
Sebastian Gießmann: Lebendige Netzwerke: Kulturtechniken, Medien, Wissen
Moderation: Peter Bexte

11:00h
Panel 5
David Owald: Wie Netzwerkprinzipien Schlaf und Erinnerungen in der Fliege ermöglichen
Max Stadler: Zelle, Material, Moderne: Modellwelten nervöser Biophysik?
Moderation: Christoph Ploner

PAUSE mit Gelegenheit zu einem Ausstellungsbesuch im Tieranatomischen Theater

ABSCHLUSS
Ausstellungsrundgang mit den Kuratoren Thomas Schnalke und John-Dylan Haynes in der Ausstellung Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst im Medizinhistorischen Museum der Charité

Dank
Das Symposium wurde als Networking Event von der Stiftung Charité gefördert.

Veranstaltungsort:
Humboldt-Universität zu Berlin
Campus Nord, Haus 4
Philippstr. 13
10115 Berlin
HU Campus Nord Gebäude 4 & 3
Das Symposium findet im Hörsaal des Haus 4 (links) statt, das sich direkt nebem dem Tieranatomischen Theater befindet.


Die Verbindung von Ästhetik und Komplexität wurde bereits in der Einführung des Sprechers des SFB1315 Matthew Larkum (HU Berlin) deutlich: Die vielen Variationen weitverzweigter Dendritenbäume von Nervenzellen im Gehirn lassen die Herausforderungen erahnen, neuronale Aktivität auf der Zellebene zu beschreiben. Explizit wandte er sich damit gegen vereinfachende Ansätze, die Neuronen zu einem Punkt reduzieren.

Panel 1

AKUSTISCHES RAUMGEDÄCHTNIS | In einem Publikumsexperiment ließ in der ersten Session Livia de Hoz (Charité Berlin) in ihrem Vortrag "Making sense of sound up (and down) the auditory circuit hierarchy" deutlich werden, dass das, was wir im Gehörten zu erkennen glauben, immer auch von Hörerwartungen geprägt ist. Sie zeigte auf, dass derartige Erwartungen auch das Verhalten von Mäusen beeinflusst und wie bei diesen Tieren mit variierender Tonhöhe die Wahrscheinlichkeit sich verändert, dass bestimmte Neuronen in verschiedenen Gehirnbereichen feuern. Generell zeichnet sich die auditive Prozessierung im Gehirn durch ein komplexes Ineinanderwirken der verschiedenen Verarbeitungsebenen über meist wechselseitige Feedbackschlaufen aus.

Wie wir in komplexen akustischen Raumsituationen bestimmte Schallereignisse heraushören und deren Richtung verorten können, beschäftigt Bernhard Seeber (TU München) in seinen Simulationen im reflexionsarmen Raum. Er hob bei der Richtungsbestimmung die Bedeutung des Präzedenzeffekts hervor, bei dem es entscheidend ist, welches Ohr zuerst einen bestimmten akustischen Reiz erhält und somit sekundäre Reflexionen weggefiltert werden. Reflexionen helfen aber auch, uns einen akustischen Eindruck von der Dimension eines Raumes und der Beschaffenheit seiner Oberflächen zu vermitteln, um sich daran zu orientieren. Er stelle auch kurz eine in seiner Arbeitsgruppe entwickelt Simulationsumgebung vor, mit der sich die Audioneuronen-Aktivität des "Theatre of Memory" in verschiedenen Räumen akustisch modellieren lässt.

In der von Katja Naie (Schering Stiftung) moderierten Diskussionsrunde betonten Livia de Hoz und Bernhard Seeber die Bedeutung von Bewegung und plötzlicher Veränderung des akustischen Umfelds für die Erschließung von räumlichen Gegebenheiten. Relativ schnell – innerhalb von 1,5–2 Sekunden – können sich Menschen akustisch auf neue räumlich Gegebenheiten einstellen, die sich durch die Veränderung des Reflexionsverhaltens auszeichnen. Verfahren, solche Reflexionen neuroakustisch auszublenden, setzt Seeber bei der Entwicklung von Cochlea-Implantaten als Hörhilfe ein, wenn die Algorithmen den Beginn eines akustisch relevanten Signals beispielsweise durch das Einfügen einer kurzen Lücke vorher verstärken. Bemerkenswert war, dass beide Panelisten keine persönliche aber eine wissenschaftliche Distanz zur Musik zeigten: "I try to keep away from music as it is a mine field", offenbarte de Hoz, die eine Musik von Bach lediglich wegen der Variationen von Motiven in unterschiedlichen Tonlagen für ihre Mäuseexperimente einsetzt.

Panel 2

KÖRPER UND GEIST IN DER RÖHRE | Die Kunst hat sprichwörtlich beide Vorträge der zweiten Session gerahmt. John-Dylan Haynes (Charité Berlin) stellte in seinem Vortrag "Gehirn – Kunst und Freiheit" das Publikum mit einem kopfstehenden Ausschnitt aus einem Turnergemälde auf die Probe: Er demonstrierte damit, dass ästhetische Urteile und Präferenzen höchst individuell sind, was sich auch in unterschiedlichen Aktivitätsmustern im Brain-Imaging niederschlägt. Er stellte detailliert das bildgebende Verfahren mittels Kernspintomographen vor, das nicht die Aktivität von Nervenzellen misst, sondern den Sauerstoffgehalt in den umgebenden Blutgefäßen. Das Verfahren hat deshalb nur eine räumlich und zeitlich beschränkte Auflösung, die nicht technisch sondern biologisch durch die Größe der Blutgefäße bedingt ist: Ein sogenannter Voxel umfasst die Aktivität von bis zu 1 Million Nervenzellen. Die sich aus den Voxeln zusammensetzenden Hirnbilder versteht er als "statistische Karten", die Wahrscheinlichkeiten indizieren. Aus deren Muster lassen sich individuelle Wahrnehmungen beispielsweise von Bildern aber auch die Erkennung von künstlerischen Stilen ableiten und sogar vorhersagen. Diese Vorhersehbarkeit unterschied er klar von einem einseitigen Determinismus, wie er u.a. von Libet postuliert wurde. Freiheit gründet sich für ihn nicht auf einem Leib-Seele-Dualismus, gegen den er einen Monismus explizit in Stellung brachte. Freiheit gründet vielmehr auf einer Selbstbestimmtheit, die gerade auf der individuellen Aktivität im Gehirn, die durch Lernprozesse mit geformt wurde, beruht.

"What you see is what you get" – diese Anspielung auf das frühe Versprechen von Computerbenutzeroberflächen übertrug der Wissenschafts- und Medizinhistoriker Cornelius Borck (Universität Lübeck) auf die Neurowissenschaften: Durch die Gegenüberstellung von Beispielen aus der Geschichte der Gehirnstromaufzeichnung mittels des EEGs mit den jüngeren Verfahren des functional imaging des MRT zeigte er auf, dass die Anwendung verschiedener Technologien stets den Möglichkeitsraum des Darstellbaren determinieren. Die nie endenden Oszillationen im EEG brachen mit etablierten Vorstellungen wie dem Gehirn als einer Telegraphenstation. Gleichzeitig zeigte der Mitbegründer einer Critical Neuroscience die Kontinuität der mit einer neuen Technologie wiederkehrenden Versprechungen auf. Mit dem Verweis auf Bertolt Brechts "Geschichten vom Herrn Keuner" hob er auf die proleptische Struktur von Wissenschaft ab, die die Wirklichkeit an Modellentwürfe anpasst und nicht umgekehrt. Cornelius Borck rahmte bildlich seinen Beitrag mit einem Hirnschnittbild von Paul Flechsig aus dem Jahre 1894, das er zum Ende mit einer Adaption in einem Ölbild von Martin Kippenberger von 1994 kontrastierte. Gegenüber jüngeren Tendenzen einer Ontologisierung von Kultur in den Neurowissenschaften machte er somit Kunst stark als Herausforderung von Wissenschaftsreflexion.

Die von Felix Sattler (Tieranatomisches Theater) geleitete Diskussionsrunde war maßgeblich von dem Spannungsverhältnis von Dualismus versus Monismus geprägt. Cornelius Borck plädierte für eine dualistische Trennung zwischen Körper und Geist, nicht unbedingt weil diese ihn überzeugt, aber weil er schlichtweg die monistischen Erklärungsversuche für zu stupide hält. Er machte ferner auf eine soziale Dimension aufmerksam: Gedanken seien nicht im Gehirn zu verorten, sondern – insofern sie semantisch relevant sind – in unserer Gesellschaft und Sprachkultur. Als Replik auf Haynes Schlussüberlegungen verwies er darauf, dass diese kollektive Dimension auch die Frage nach der Freiheit beantwortet. Diese versteht er nicht als eine Sache des Glaubens, sondern der Zuschreibung: Damit Freiheit und Selbstbestimmung verwirklicht werden können, müssen kollektiv die Gelingensbedingungen geschaffen werden. Haynes quotierte die Beharrlichkeit der Trennung von Körper und Geist, dass diese möglicherweise dem Umstand geschuldet ist, dass wir uns von Kindheit an den eigenen Körper erst einmal sehr indirekt erschließen müssen. Er verwies ferner auf die Unterscheidung der ethologischen Verhaltensforschung in proximale und distale Ursachen hin, die helfen könne, neurowissenschaftliche Diskurse zum Embodiment oder zur Kultur zu differenzieren. Auch er erkennt eine sprachliche Herausforderung bei der Interpretation von Hirnbildern: Die Unzulänglichkeit ist hier für ihn phänomenologischer Natur, da Phänomene für die Analyse mit Begriffen gelabelt werden müssen und nicht alle Nuancen von Erfahrungen sprachlich artikuliert werden können. Von technischer Seite sieht er beim functional imaging das Problem, dass es viel einfacher ist, etwas über den Ort auszusagen als über die zeitliche Dimension. Borck warnte abschließend, dass das daraus resultierende ikonische Paradigma, "da" sei ein nachweisbarer physiologischer Prozess, zu einer Hirntheorie verführt, dass dieses "da" auch die Ursache sei.

Panel 3

ÄSTHETIK DER SELBSTORGANISATION | Marina Mikhaylova (HU Berlin) fokussierte in ihrem Vortrag "Calcium Symphony: Conducting Neuronal Trafficking for Synaptic Plasticity" mit den Synapsen die Schnittstelle neuronaler Signalübertragung. Sie zeigte die Komplexität des Zelltransportsystems auf, mittels dessen gezielt Stoffe vom Zellkörper der Nervenzelle in die Axone oder Dendriten geleitet werden. Bestimmte Stoffe und Strukturen können aufgrund der großen Distanzen aber auch lokal erzeugt werden, wie z.B. der Dornenapparat, der die sogenannten Dornenfortsätze bestimmter Dendriten stabilisiert. Eine Dirigentenfunktion in der Orchestrierung der Bildung und Stabilisierung dieses Dornenapparates, die die Plastizität der jeweiligen Synapse mit steuert und sich so auf die Lern- und Gedächtnisfunktion auswirkt, kommt dabei Kalzium zu.

Tim Otto Roth sprang für die erkrankte Beatrice de Gelder ein und legte das Konzept einer Neuronästhetik näher dar: Unter Ästhetik versteht er hierbei vornehmlich ein Paradigma oder Denkstil (Fleck). Ausgehend von einer von La Mettrie und Kant im 18. Jahrhundert mit angestoßenen Entwicklung zeigt er auf, wie sich erst in der jüngeren Geschichte ein Denkstil entwickelt, der Komplexität erst ab den 1930er und -40er Jahren in unterschiedlichen Disziplinen erst denkbar macht und wie dieser Denkstil unter dem Vorzeichen der Rückkoppelung letztlich in der Kybernetik kulminiert.

Das Thema Selbstorganisation bestimmte maßgeblich die Diskussion, die von Christoph Ploner (Charité Berlin) geleitet wurde: Mikhaylova wies darauf hin, dass bei den vielen Prozessen in der Zelle, die durch Selbstorganisation angetrieben werden, stets der Ort und der Zeitpunkt zentral für deren Entwicklung ist. Die Mikrobiologin plädierte in dem Kontext dafür, das Konzept der "Entfaltung" (unfolding) einer näheren Betrachtung, z.B. aus entwicklungsbiologischer Sicht, zu unterziehen. Auf die Diskrepanz zwischen neurobiologischen Systemen und zelluläre Automaten angesprochen, machte Roth sich für die Automaten als prototypische Modelle für sich selbstorganisierende Systeme stark. Auch wenn diese nicht zwangsläufig biologische Prozesse abbilden, so schaffen sie gerade in ihrer Reduziertheit ein grundlegendes Verständnis von komplexen Netzwerkdynamiken.

Abendpanel

SPATIAL TURN & RESONANZ| Im Abendpanel entfaltete sich "ein selten gehörter feuriger Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft" (Cornelius Borck) zwischen dem Musiker Jan St. Werner und dem Neurowissenschaftler und Sprecher des SFB 1315 Matthew Larkum, der selbst als Violinist u.a. im Sinfonie Orchester Berlin aktiv ist. Tim Otto Roth führte in seiner Anmoderation in die Besonderheit von Werners Werk ein, indem er das persönliche Erlebnis der Ausstellung "Space Synthesis" in der Kunsthalle Baden-Baden schilderte: Optisch waren die Hallen des Ausstellungstempels maßgeblich entleert, doch ausgehend von drei Wellenfeldsynthese-Lautsprechern füllten sich die Räume mit einer begehbaren ätherischen Klanglandschaft. Jan St. Werner betonte, dass er sich Klang als etwas Beweglichem und Multiperspektivischem nähern möchte. Aber auch die Psychologie des Hörens und Psychoakustik ist von Bedeutung für sein klangkünstlerisches Schaffen, das er als Raumforschung versteht: Das Augenmerk legt er auf den Raum als Umfeld, das durch seine spezifischen Reflexionen und Resonanzen einem Impuls erst den charakteristischen Klang verschafft: "Kunst kommt zur Blüte, wenn sie beginnt mit ihrer Umgebung zu sprechen, wenn sie reagiert, wenn der Impuls eine Resonanz erzeugt". Diese Resonanz versteht er maßgeblich auch als soziales Erlebnis im kollektiven Erleben und Mitfreuen an einer Musik.

Dem Verständnis von Kunst als Forschung stimmte Matthew Larkum zu, auch wenn er einwendete, dass er Kunst zu einem gewissen Grad offenlassen und in dem Sinne nicht verstehen wolle. Sowohl Wissenschaft als auch Kunst sieht er von der Neugierde getrieben, nicht Antworten sondern neue Frage zu finden. Dissonanzen wertete er in dem Kontext als positiv: "Dissonanz ist das, was uns die ganze Zeit antreibt." Dabei die richtige Balance zwischen Erwartung und Überraschung zu finden, darin liegt für ihn der Kern von Kreativität. Jan St. Werner hob anspielend auf Oswald Wiener die Bedeutung von Selbstreflexion hervor: Durch Formalisierungen können völlig neue Dinge entdeckt werden – gerade im Dialog mit anderen: "Was in der Kunst tatsächlich übersehen wird, ist dieses Verhandeln, also mit einander eigentlich zu versuchen, etwas auszuhandeln."

Angesprochen auf eine früher Aussage, dass Musik nicht an sich komplex sei, sondern, dass man sie komplex hören wollen muss, kam Jan St. Werner auf Alvin Luciers "Silver Streetcar for the Orchestra" (1988) zu sprechen, um deutlich zu machen, dass komplexe Hörerlebnisse mit ganz simplen Mitteln wie einer einzigen Triangel erzeugt werden können. Matthew Larkum schilderte die Konfrontation seines Kammermusikensembles mit der großen Fuge von Ludwig van Beethoven. Die Komplexität dieses Stücks allmählich zu verstehen, trägt für ihn die metaphysischen Züge einer Offenbarung.

Panel 4

NETZWERKE | Petra Ritter führte in ihrem Vortrag "Was können digitale Gehirn-Zwillinge?" in aktuelle Forschungen im Bereich der Computational Neuroscience ein. Das von ihr und ihrem Team entwickelte Virtual Brain vernetzt die mikroskopische und makroskopische Betrachtungsebene und bietet die Möglichkeit durch die Zuhilfenahme aktueller Modelle, mathematischer Tools und persönlicher Daten eines Patienten personalisierte virtuelle Gehirne zu generieren. Diese "digitalen Zwillinge" versprechen eine therapeutische Optimierung beispielsweise bei Parkinson- oder Epilepsiepatienten, um die Effekte von Hirnsonden vorab zu simulieren. 650 solcher digitalen Zwillinge werden aber auch für die Grundlagenforschung eingesetzt, um besser zu verstehen, wie Entscheidungsprozesse ablaufen. Die virtuellen Modelle werden aber auch aktuell in drei Berliner Museen zur Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt.

Der digitale Zwilling, so führte im Anschluss der Medienwissenschaftler Sebastian Gießmann aus, ist ein Beispiel für ein Netzwerk, worunter er hybride, interkonnektive und unscharfe Quasi-Objekte versteht, die Menschen, Dinge, Zeichen, Institutionen und Räume integrieren. Ausgehend von dieser Begriffsdefinition gab er beginnend mit René Descartes Gehirndarstellung und Denis Diderot "D'Alemberts Traum" einen kurzen Überblick über die Netzwerkgeschichte. Dabei betonte er im Hinblick auf die Fragen einer Neuronalen Ästhetik die Verbindungen von Neurophysiologie und digitaler Medientechnik in der Kybernetik, aber auch die Verbindungen von Natürlichem und Technischem in den Diskussionen der 1990er Jahre, die ständig ineinander übersetzt und somit ununterscheidbar wurden. Am Ende seines Vortrags stand die Frage, ob wir gegenwärtig mit maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz eine neue Schicht der Netzwerkgeschichte erleben, die sich weniger durch eine Konjunktur des Neuronalen auszeichnet, als vielmehr dadurch, dass die zentralen Akteure nicht mehr in der Wissenschaft, sondern in den globalen Datenindustrien zu finden sind.

In der von Peter Bexte moderierten Diskussion wurden verschiedene Aspekte aus beiden Vorträgen aufgegriffen. Nach dem kritischen Einwurf von Cornelius Borck, dass der digitale Zwilling aufgrund seiner Öffentlichkeitswirksamkeit wohl auch den Zweck habe, Fördermittel für die Hirnforschung zu akquirieren, warf Christoph Ploner aus medizinischer Sicht einen Blick in die Zukunft: Lässt der digitale Zwilling nicht gerade für körperlich extrem eingeschränkte Patienten das Digitale zu einem realen Schauplatz werden bis hin zu einer möglichen Fortexistenz im digitalen Raum? Dass die Medizintechnik z.B. in den von Bernhard Seeber angeführten Cochlea-Implantaten bereits sehr weit in der Entwicklung von Neuroprothesen ist, wurde auch von Petra Ritter bestätigt, dennoch wies sie darauf hin, dass es sich beim digitalen Zwilling um ein Modell handelt, d.h. es beruht auf Reduktion und Abstraktion. Damit kann es helfen, die Realität zu verstehen, aber kann diese nicht ersetzen. Hier schloss auch Tim Otto Roth an, der die von Gießmann gestellte Frage nach einer Neuronalen Ästhetik aufgriff. Das Perzeptron als mathematisches Modell eines neuronalen Netzwerkes kann nie die Komplexität einer biologischen Intelligenz erreichen. Das bestätigt auch Gießmann im Hinblick auf aktuelle mediale Netzwerkgrammatiken. Die Reduktion, die im Moment in den Medien im Hinblick auf künstliche Intelligenz zu beobachten ist, ist in Wissenschaft und Medizin undenkbar.

Panel 5

MODELL & MINIMALNETZWERK | David Owald (Charité Berlin) gab in seinem Vortrag "Wie Netzwerkprinzipien Schlaf und Erinnerungen in der Fliege ermöglichen" Einblicke in seine aktuelle Forschung zur Gedächtniskonsolidierung bei der Fruchtfliege (Drosophila). Aufgrund der bereits erfolgten Kartierung des Gehirns aus 120 bis 150.000 Neuronen können bestimmte Reize recht gut lokalisiert werden. Seine Arbeitsgruppe konnte so beispielsweise aufzeigen, wie appetitive Signal in einem vergleichsweise minimalistischen Netzwerk von rund 40 Neuronen verarbeitet werden. Eine Speicherung dieser Reize findet im Schlaf statt. Man vermutet, dass dafür unter anderem ein Ring aus sechs Neuronen verantwortlich ist. Die Neuronen feuern im Schlaf synchron in einem 1 Herz-Rhythmus und werden von einem inhibitorischen Netzwerk überlagert, das Reize von außen ausschaltet.

Während die Arbeitsgruppe von David Owald direkt am lebenden Organismus arbeitet, warf der Wissenschaftshistoriker Max Stadler in seinem Beitrag "Zelle, Material, Moderne: Modellwelten nervöser Biophysik?" ausgehend vom Hodgkin-Huxley-Modell (1952) einen Blick zurück in die Geschichte der Neurowissenschaft. Dabei hebt er heraus, dass die technischen Erfahrungen, die die beiden Forscher Hodgkin und Huxley im Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, durchaus mitgeholfen haben, Methoden zu entwickeln, die es erlaubten, das Aktionspotential von Neuronen zu messen. Allerdings waren es nicht alleine die technischen Kenntnisse der Forscher, sondern eine Vielzahl von Forschungen im Bereich von Elektrizität, Oberflächenbeschaffenheit und zu Schaltkreisen in den 1920er und 1930er Jahren, sowie die Entdeckung von Riesenaxonen bei Tintenfischen die letztendlich die Entwicklung des Hodgkin-Huxley-Modells ermöglichten. Anhand zahlreicher Beispiele und Entwicklungen zeichnet Stadler diesen Prozess in seinem Vortrag nach.

In der anschließend von Christoph Ploner geleiteten Diskussion stand einerseits die Frage im Zentrum, welchen Einfluss sowohl technische Neuerungen als auch alltägliche Entwicklungen auf die Forschung haben. Dabei wurde betont, dass eine Technologie alleine keine Weiterentwicklung im Feld der Wissenschaft bewirken kann, da es immer der menschlichen Kreativität bedarf, um eine neue Technologie auch sinnvoll in die Forschung einzubringen. Andererseits stellte John-Dylan Haynes die provokante Frage, ob Hirnforscher*innen sich nicht immer mit dem eigenen Scheitern konfrontiert sehen, da das Gehirn so komplex ist, dass allgemeine Aussagen nicht getroffen werden können. Hier bedarf es daher einer besonderen Reflexion der Wissenschaftler*innen, um ihren Gegenstand immer wieder neu zu sehen und Forschungen zu betreiben, die die eigenen Grundannahmen hinterfragen. Dem konnte David Owald nur zustimmen: "Das größte Glücksgefühl tritt dann ein, wenn man sich selbst widerlegt […]. Das ist der Moment, wo man was Neues gefunden hat."

Eine Führung der beiden Kuratoren Thomas Schnalke und John-Dylan Haynes in der Ausstellung Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst im Medizinhistorischen Museum der Charité bildete einen gelungenen Abschluss für das Symposium.

Dank
Das Symposium wurde als Networking Event von der Stiftung Charité gefördert.

News

Save the dateTheatre of Memory zu Gast am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. Eröffnung war am 15. Februar um 19 Uhr. Anmeldung erwünscht.


20 February 2024 How did you do you that?, Künstlergespräch am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankurt a. M., 18h in englischer Sprache.


Publikation Simulating, exploring and optimizing the spatial sound scene of the Sonapticon. Bernhard U.Seeber, Johannes Kurz, Tim Otto Roth, in: Proceedings of the 10th Convention of the European Acoustics Association Forum Acusticum 2023, January 2024, pages 4321-4325.

Save the date Am 11. Januar 2024 um 18.30 Uhr feiert das Sonapticon in neuem Gewand und mit deutlicher Erweiterung auf insgesamt 70 Audioneuronen als Theatre of Memory Permiere im Tieranatomischen Theater in Berlin.
Grußworte zur Eröffnung der Ausstellung sprachen Prof. Dr. Christoph Ploner (Stellvertretender Klinikdirektor der Klinik für Neurologie) und Dr. Elke Lange (Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt). Die Einführung in das Werk Theatre of Memory übernahm der Leiter des Kunstmuseums Wolfsburg Dr. Andreas Beitin.

  • Besucher während einer der drei Präsentationen in den imachination labs. Credit: imachination projects

  • Manuel Prugel während der Arbeit in einer der langen Nächte vor der Premiere. Die Audioneuronen basieren technisch zwar auf der Mikroelektronik des [aiskju:b]-Projektes. Die Firmware musste dennoch völlig neu konzipiert werden. Credit: imachination projects

  • Der Saxophonist Yérri-Gaspar Hummel interagiert mit den Audioneuronen.

Oktober 2021 Nach intensiven Monaten der Vorbereitung feierte am 3. Oktober 2021 das Peri-Sonapticon eine kleine Weltpremiere in den imachination labs in Oppenau im Rahmen einer private view mit Freunden des Studios. Special guest des Abends war der Straßburger Musiker Yérri-Gaspar Hummel, der mit seinem Altsaxophon die 41 Audioneuronen akustisch anregte.

September 2021 Das Herzstück des neuen Sonapticons ist in Produktionen gegangen: die Platinen für die Audio-Neuronen, die eine Mikroelektronik mit Mikrophon, LED-Licht und Tonausgabe umfassen.
Besonderen Dank an: Benjamin Piltz (Elektronik und Bestückung), Manuel Prugel (Programmierung) und Miriam Seidler (Film).

April 2021 Gefördert durch das Programm Neustart Kultur entsteht aktuell eine mobile Version des Sonapticons.


Medienresonanz

Vernetzt wie Nervenzellen, von Rainer Braxmaier, Offenburger Tageblatt, 27. Oktober 2021


September 2019, Soundart herausgegeben von Peter Weibel zeigt auf drei Doppelseiten das Heaven's Carousel, das Sonapticon und die Wasserorgel aura calculata, MIT Press 2019.



April 2016, Seizing Attention: Devices and Desires, von Barbara Maria Stafford, Art History, Volume 39, Issue 2, pp. 422–427.

October 2015 Aura Calculata – die Klang- und Lichtkunst von Tim Otto Roth siedeln an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft, von Helga de la Motte-Haber, Neue Zeitschrift für Musik 05/2015, S. 34-37

Artist collaborates with neuroscientist to build 'audio-neurons', Interview von Robert Barry, wired.co.uk, 10. Dezember 2012.

Hören, wie Nervenfasern sprechen, Acher-Rench-Zeitung 21. November 2012