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Wasserorgel

Aura calculata ist eine Wasserorgelskuptur aus 18 kreisförmig arrangierten gläsernen Orgelpfeifen. Gespeist werden die Pfeifen aus einem Wasserreservoir im Zentrum. Über ein Ventilsystem kann Wasser zu- und abfließen. Zu Beginn füllen sich alle Pfeifen, indem das Zulaufventil geöffnet wird und sich die Pfeifen durch den Wasserdruck des Reservoirs gleichmäßig füllen. Beginnt die Orgel zu spielen, haben alle Pfeifen die gleiche Füllhöhe und spielen den gleichen Ton.



Nur der Takt wird noch von außen vorgegeben. Ihre Aktivität steuern die Pfeifen in Abhängigkeit von der Aktivität ihrer Nachbarn. Dazu sind sie über Kabel miteinander verbunden. Ähnlich wie bei einer La-Ola-Welle gibt ein festgelegtes Set an Regeln vor, wann eine Pfeife aktiv ist, d.h. wann Sie leuchtet und einen Ton spielt. die einzelne Pfeife aktiv ist, d.h. wann sie leuchtet und einen Ton spielt. Die Aktivität wird von der Pfeife darüber hinaus analysiert. Die Wassersäule fällt oder steigt, je nachdem, wie aktiv die einzelne Orgelpfeife in den letzten Zuständen war.

Aura calculata wurde im Winter 2016 realisiert in Zusammenarbeit mit den Orgelbauern Jäger & Brommer aus Waldkirch anläßlich der Ausstellung XX oder der Mummelsee in der Pfanne in der Städtischen Galerie Offenburg.



Sinuston-Environment

Aura calculata ist eine für das Foyer des Lehmann-Zentrum Rechenzentrums der TU Dresden konzipierte permanente Klanginstallation von Tim Otto Roth. Die kleinste diskrete Einheit dieses Environments bilden 39 sogenannte Soundpixel – elektronisch autonome Lautsprecherskulpturen aus transluzentem Plexiglas –, die sich über Kabel mit den Nachbarn austauschen.



Die beiden äußeren Soundpixel sind hinter der Wand miteinander verkabelt, so dass die Soundpixel eine zyklische Struktur bilden. Die in einer Linie gereihten Lautsprecherskulpturen verkörpern einen elementaren Rechenprozess. Die Aktivität der Soundpixel wird durch ein simples Additionsprinzip bestimmt, ähnlich dem, einer La-Ola-Welle in einem Stadion. Jeder Soundpixel reagiert auf die Aktivität seiner unmittelbaren Nachbarn. Über die pulsierende Steuerung, die den Zeittakt vorgibt, kann insgesamt zwischen vier einfachen Nachbarschaftsregeln gewählt werden. Ist bei einer der Regeln nur jeweils genau ein Nachbar aktiv – mathematisch formuliert, wenn die Summe der aktiven Nachbarn gleich eins ist –, tönt und leuchtet er selbst im nächsten Schritt. War ein Soundpixel in den letzten Schritten überwiegend an bzw. aus, verändert er Farbe und Tonhöhe nach oben bzw. nach unten. Ohne zentralen Dirigenten webt sich ein sich selbstorganisierender Klangteppich, bei dem sich die Sinustöne lokal zu unterschiedlichen Klängen mit einem orgelartigen Timbre rekomponieren.
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Aura calculata wurde 2015 gestiftet von der Bull GmbH.

Pixelsex

Aura calculata adaptiert musikalisch mit den sogenannten zellulären Automaten ein mathematisches Selbstorganisationsprinzip, das man als eine einfache Form von Netzwerk beschreiben kann, das ohne einen zentralen Dirigenten durch simple Nachbarschaftsinteraktion ein komplexes Verhalten generiert. Im Alltag ist das Prinzip beispielsweise aus dem Fußballstadion bekannt. Die La-Ola-Welle funktioniert nach einer sehr einfachen Nachbarschaftsregel. Steht mein rechter Nachbar auf, dann stehe ich im nächsten Schritt selbst auf.
Diese einfache Form der Kommunikation in einem Feld von Nachbarn, die Tim Otto Roth in Zusammenarbeit mit Prof. Andreas Deutsch von der TU Dresden in ihren verschiedenen Facetten erkundete, regte den Künstler zur Formulierung des Pixelsex-Prinzips an. Versteht man Sex als Form der Kommunikation, dann stellt er damit die Frage, wie sich in einem Feld von Einheiten durch die Formulierung einfacher lokaler Regeln komplexe Prozesse nachvollziehen lassen.


Verändert man die "La-Ola"-Regel (links) lediglich dadurch, daß ein Soundpixel dann aktiv ist, wenn entweder der linke oder rechte Nachbar aktiv ist, dann entsteht ein Muster (rechts und Lampen im Hintergrund). Diese additive Regel kommt auch bei der Lautsprecherinstallation in Dresden zum Einsatz.

Dieses Modell ist in der Wissenschaft bereits etabliert. Es wurde Ende der 1940er Jahre von dem Mathematiker John von Neumann und dem Physiker Stanislav Ulam konzipiert und inspirierte auch Konrad Zuse – den Erfinder des ersten funktionsfähigen Computers – zur Idee eines "rechnenden Raums".
Tim Otto Roth bringt durch ein raffiniertes Analyseverfahren einen solchen "rechnenden Raum" zum Klingen. Je nach Anzahl der zur Verfügung stehenden Soundpixel legt er eine oder mehrerer Regeln fest, die in einem Netzwerk beachtet werden. So arbeitet er in der aus 39 Einheiten bestehenden Lautsprecherversion mit einem einfachen Additionsprinzip: Ist jeweils genau ein Nachbar aktiv, tönt und leuchtet der Soundpixel selbst im nächsten Schritt. Wahlweise kommen vier verschiedene Additionsregeln bei der Lautsprecherinstallation zum Einsatz. Bei der mit 18 Einheiten ausgestatteten Orgelinstallation wird das Additionsprinzip aufgebrochen, da bei der niedrigen Anzahl reine Additionregeln keine Dynamik entfalten.
Der Direktor des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, Prof. Peter Weibel, betonte in einem Publikumsgespräch mit dem Künstler, dass gerade die Anordnung der Orgelpfeifen im Raum und das zugrundeliegende Netzwerkmodell Merkmale einer neuen Musik im 21. Jahrhundert sind.

Verwandte Projekte:

Musik & Wissenschaft

Gemeinsam ist beiden Installationen, dass alle Soundpixel mit dem gleichen Ausgangston beginnen und dann durch das Pixelsex-Prinzip ihre Tonhöhen verändern. Bei der Lautsprecherinstallation spielen alle aktiven Soundpixel zu Beginn mit dem Kammerton A den gleichen Sinuston und leuchten dabei grün. Sukzessive beginnen die Tonhöhen, sich auseinander zu bewegen, so dass ein Klangteppich mit vielen Schwebungen entsteht, der je nach Position des Betrachters/Zuhörers eine unterschiedliche Wirkung entfaltet. Verändert sich die Tonhöhe nach oben so verändert sich die Farbe zum Blau hin, je tiefer die Töne werden, umso mehr verschiebt sich die Farbe über Gelb hin zu Rot. Erreicht ein Soundpixel einen unteren oder oberen Grenzton, wird das System wieder in seinen Ausgangszustand versetzt.

Bei der Wasserorgel wird die Füllhöhe und damit der Ausgangston aller Orgelpfeifen dadurch bestimmt, dass die Zulaufventile geöffnet werden und sich durch den Wasserdruck der Mittelsäule der Wasserstand in allen Pfeifen angleicht. In Abhängigkeit von ihrer Aktivität läuft Wasser zu oder ab. Durch die Füllhöhe der Pfeife verändert sich nicht nur der Grundton und damit die Höhe der durch Wind (lat. aura) angeregten Klänge, sondern auch das jeweilige Timbre. Auf diese Weise überlagern sich die Töne im Raum, bilden immer wieder Schwebungen und weben einen kontinuierlich sich wandelnden Klangteppich – eine Erweiterung des Instruments Orgel um eine mikrotonale Dimension.
Auf eine Besonderheit stießen die Orgelbauern Jäger & Brommer aus Waldkirch bei der Intonation der Pfeifen für die Installation. Beim Orgelbau geht man davon aus, dass jede Pfeife in Abhängigkeit ihrer Mensur jeweils einen Bestton hat. Die Pfeifen für ‚aura' konnten aber derart intoniert werden, daß sie – je nach Wasserspiegel – zwei Besttöne aufweisen.

Aura calculata bricht das System der westlichen Tonskala auf, indem die Tonhöhe sich nicht logarithmisch verändert, wie in der Zwölftonskala, sondern metrisch, indem sich die Wellenlänge bei den Lautsprechern in Millimeterschritten verändert. Während sich im tiefen Bereich die hörbaren Tondifferenzen zu einer mikrotonalen Ununterscheidbarkeit verkleinern, werden im hohen Bereich die Tonabstände immer größer.
Bei der Wasserorgel bestimmen sich die Tonabstände durch die Öffnungsintervalle der Zu- und Ablaufventile und durch den Druck der Wassersäulen im jeweiligen Pfeifenkörper und im Wasserreservoir. Damit verändert sich das Gesamtsystem in Abhängigkeit von der Aktivität bzw. Inaktivität der Pfeifen.

Technik

Aura calculata ist ein System von autonomen Einzelektroniken, den sogenannten "Soundpixeln" [SP]. Diese eigens für aura calculata konzipierten kreisrunden Elektroniken können zwei Zustande annehmen können: Bei Aktivität leuchtet ein SP und spielt einen Ton; ist der SP inaktiv bleibt er stumm und dunkel. Bei der Lautsprecherversion wird der Sinuston über einen integrierten Funktionsgenerator erzeugt. Bei der Orgelversion wird ein Tonmagnet geschaltet, der die Luftzufuhr zur zugehörigen Orgelpfeife reguliert. Zentral über eine Steuereinheit werden lediglich wichtige Parameter, wie die jeweilige Nachbarschaftsregel und das Taktsignal, wann die Regel ausgeführt werden soll, übertragen. Erhält ein SP ein Taktsignal, dann wertet dieser die Zustande seiner Nachbarn aus und kalkuliert daraus den eigenen nächsten Zustand. Die Nachbarschaft wird durch die direkte Verkabelung der SP untereinander festgelegt.
Üblicherweise werden die SP jeweils mit zwei Nachbarn zu einem kreisförmigen Arrangement verknüpft. Prinzipiell kann ein Soundpixel aber mit vier Nachbarn verknüpft werden. Der Verlauf der Aktivität kann ein Soundpixel auf unterschiedliche Weise ausdrücken: Das Verändern der Höhe des Sinustons, die Veränderung des Wasserspiegels durch Zu- und Ablauf, aber auch die Farbigkeit einer Leuchtdiode.
Für die Sinusvariante wurde vom Künstler eigens Lautsprecherskulpturen aus transluzentem Acrylglas entworfen, die gleichzeitig als Leuchtkörper fungieren. Aus durchsichtigem Acrylglas und Metallelementen hat er hingegen eine Orgelskulptur gestaltet, die sich minimalistisch auf das technisch Notwendige konzentriert und das komplette Wasser- und Luftsystem transparent werden läßt. Die um das zentrale Wasserreservoir kreisförmig angeordneten Orgelpfeifen sind an einer Struktur aus Acrylglasrohren und metallenen Gerüstschellen befestigt. Die Wasserorgel hat Tim Otto Roth mit seinem Team in seinem Schwarzwälder Atelier realisiert. Die Pfeifen bauten und intonierten die Waldkircher Orgelbauer Jäger & Brommer.

Mitwirkende:

Elektronik: Ingenieurbüro Dipl.-Ing. (FH) Gary Grutzek, Köln
Assistenz Lautsprecherbau: Wonbaek Shin
Montage Dresden: Dipl.-Ing. Michael Reyl, Köln
Architekten Dresden: Code Unique
Projektbegleitung Dresden: Prof. Dr. Andreas Deutsch, Daniel Hackenberg, Dietmar Augustin

Pfeifenbau: Jäger & Brommer, Waldkirch
Metallbau: Schlosserei Franz Birk, Oppenau
Laserzuschnitt Acrylglas: Uwe Schüler & Jördis Drawe,Kulturgüterschuppen Dusslingen
Acrylglasverarbeitung für die Orgel: Andreas Langenfeld; Benjamin Größle
Assistenz Orgelbau: Andreas Langenfeld; Elisabeth Nägele; Johanna & Willi Seidler; Silke Hodapp

Projektmanagement: Miriam Seidler

Edition

Wissenschaftler arbeiten schon lange und auf unterschiedliche Weise mit Selbstorganisationsprinzipien, um komplexe Prozesse wie das Wachstum der pazifischen Muschel Conus pennaceus, die Bewegung von Verkehrsflüssen in Staus oder das Wachstum von Tumorzellen zu erklären. Neu an der Auseinandersetzung mit diesen sogenannten zellulären Automaten im künstlerischen Werk Tim Otto Roths ist, dass er eine Langzeitbeobachtung der lokalen Dynamik vornimmt. Dadurch dass jede einzelne Einheit ihre Zustände in den letzten Schritten beobachtet und auswertet, kann mittels dieser temporären Attraktoren über einen längeren Zeitraum die dynamische Entwicklung eines Systems beobachtet werden, die sich von gängen Klassifikationen von zelluären Automaten unterscheidet.
Für die Ausstellung XX oder der Mummelsee in der Pfanne hat Tim Otto Roth neben der klanglichen Umsetzung in der Wasserorgel aura calculata auch eine visuelle Umsetzung dieser Langzeitbeobachtung als Plakatedition (A2) in einer limitierten Ausgabe von 200 Blättern herausgegeben. Diese im Offsetdruck auf einem besonderen Werkdruckpapier umgesetzten "Partitur" macht noch einmal deutlich, wie sich die kleinste Einheit im Netzwerk – von Tim Otto Roth als Soundpixel bezeichnet – entwickelt und wie das Zusammenspiel der einzelnen Soundpixel aussieht. Der Klangteppich wird somit als Schaubild visualisiert und macht die Installation auf eine andere Art erfahrbar.

News

7. März – 14. Juni 2020 ### Logische Phantasien, Präsentation der Wasserorgel im Rahmen einer Einzelausstellung in der Kunsthalle Jesuitenkirche, Aschaffenburg, D

13. März – 30. April 2019 ### das erste mal zum zweiten mal. 20 Jahre, Präsentation der Lautsprecherversion von aura calculata im Rahmen der Gruppenausstellung im Marburger Kunstverein, Marburg, D

Mai 2017 ### aura calculata ist eine der nominierten Arbeiten für STARTS - Grand prize of the European Commission honoring Innovation in Technology, Industry and Society stimulated by the Arts

February 2016 ### Premiere: Anläßlich der Ausstellung XX oder der 'Mummelsee in der Pfanne' in der Städtischen Galerie Offenburg wurde aura calculata erstmals als Wasserorgel realisiert:


Sie können das Video auch auf Vimeo sehen.
Mehr zu der musealen Ausstellung, die vom 19. Februar - 29. Mai 2016 im Offenburger Kulturforum zu sehen ist, unter: www.imachination.net/xx


Medienresonanz

11 November 2017, Mathematical Socialism: Tim Otto Roth Lights Up Hanoi, feature and interview by Robert Barry, The Quietus

September 2017, Aura calculata, challenging the tonal scale, review by Paul Prudence, NEURAL #57

October 2015 Aura Calculata – die Klang- und Lichtkunst von Tim Otto Roth siedeln an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft, by Helga de la Motte-Haber, Neue Zeitschrift für Musik 05/2015, pp. 34-37

Juni 2015 Aura calculata - am 20. Mai wurde im Foyer des Lehmann-Zentrums die permanente Klanginstallation von Tim Otto Roth eingeweiht, Dresdner Universitätsjournal 10/2015

Weitere Besprechungen zur Orgelinstallation und Pressebilder finden Sie auf der Presseseite der Offenburger Ausstellung.